Was bedeutet es, mit 15 Jahren der Schule verwiesen zu werden? Wie fühlt es sich an, im Gefängnis zu sitzen? Woran muss ich denken, wenn ich meine Flucht plane? Auf wen kann ich überhaupt zählen?
Diese Fragen und andere stellen sich nicht jedem, sondern Menschen, die in Zeiten aufwachsen oder aufgewachsen sind, die von Unfreiheit geprägt sind. Frau Dr. Werwigk-Schneider, immer wieder als Zeitzeugin für die Gedenkstätte Berliner Mauer für Fragen offen, erzählte am 5. Mai 2021 vor einigen Schüler:innen der 8.21 und 8.22, der 10.21 und der 11.1 aus ihrem Leben.
Geboren 1938 in Teupitz in Brandenburg, berichtete sie davon, dass sie in den 1950er Jahren in der DDR in der Schule Probleme bekam, weil sie – aus einer relgiösen Familie stammend, ihr Vater ist evangelischer Pfarrer – aktives Mitglied der christlichen Jungen Gemeinde war. Als sie sich auch später nicht in eine Jugendorganisation zwingen lassen wollte, führte das zu einem Vermerk auf ihrem Zeugnis, der das geplante Medizinstudium zunächst nicht zuließ. Ihr Vater protestierte erfolgreich mit Verweis auf schon viele geflohene Ärzte, um seiner Tochter doch den Zugang zum Studium zu ermöglichen. 1962 schloss sie das Medizinstudium ab, doch ihr Traum von einem freien Leben war durch den Mauerbau geplatzt.
Nach dem Mauerbau plante die Familie 1963 die Flucht, die jedoch scheiterte und die Familie ins Gefängnis brachte. Auf die Frage eines Schülers, was sie dort gefühlt habe, antwortete sie, dass sie "keinerlei Unrechtsbewusstsein" und "Wut" verspürt habe, denn in ihren Augen sei das kein Unrecht gewesen. Unsere Schüler:innen interessierten vor allem Fragen zu der Lebenssituation, wie sie mit einem möglichen Scheitern der Flucht umging, welche Stützen in diesen schwierigen Zeiten sie hatte und wie sie schließlich ihr Leben als Kinderärztin in Westberlin beurteilte, nachdem sie 1968 nach einem zweiten gescheiterten Fluchtversuch über Bulgarien wieder ins Gefängnis gekommen war und schließlich von der Bundesrepublik freigekauft wurde.
In einer abschließenden Runde äußerten sich die Schüler:innen zu den Vorzügen, die ihnen ein solches Zeitzeugengespräch im Vergleich mit einem Museumsbesuch oder einem Informationstext in einem Buch gebracht hat, und freuten sich, konkret eine Person kennen gelernt zu haben, die auch bereit war, aus ihrem Leben und von dem Erlebten zu berichten, weil sich so vieles leichter verstehen lasse und zugleich die Möglichkeit besteht nachzufragen.
Die Ernst-Reuter-Schule bedankt sich bei Frau Dr. Werwigk-Schneider für die Einblicke in ihr vielschichtiges Leben, aber auch bei unseren Schüler:innen für ihre Bereitschaft zu diesem Gespräch, für die klugen Fragen und interessanten Perspektiven, und freut sich auf eine Fortsetzung der Kooperation mit der Gedenkstätte Berliner Mauer.